Die Stadt aus der Sicht des Volkes
SZ - 27.07.2010
„Die Stadt aus der Perspektive des Volkes“
Von Cornelia Kurth
Ja, das sind wirklich drei handfeste Weiber, die da zusammenhocken und sich lebhaft unterhalten: Die füllige Margaretha, „schwatzhaft und verfressen“ sei sie, das sagt sie von sich selbst. Dazu Babette, die streng und zurückhaltend wirkt und dann doch die kecken Sprüche macht; und Karoline mit den roten Haaren, die sich nicht darum kümmert, dass sie als Außenseiterin, gar als Hexe gilt. Für diese drei ist es immer das Jahr 1623, das Jahr, als der Dreißigjährige Krieg auch die Universitätsstadt Rinteln an der Weser erreicht. Gekleidet in selbst genähte Trachten führen sie Touristen durch die Altstadt und erzählen höchst anregend vom damaligen Alltag der Bürgersfrauen.
Die drei Stadtführerinnen, die sich unter dem Motto „Weiberschnack“ zusammenfanden und Margaretha, Babette und Karoline zum Leben erweckten, sie sind auf eine Weise hingegeben an ihre Rollen, dass es eine Freude ist. „Unsere Figuren haben uns gesucht und gefunden“, sagt „Babette“ Helge Heinke-Nülle, die Volkskundlerin ist und es liebt, im Stadtarchiv zu stöbern.
„Sobald ich mein Kostüm trage, bin ich die Margaretha“, ergänzt Karin Gerhardt, Theologin und Geschichtenerzählerin.
„Irgendwie habe ich sowieso etwas von einer Hexe“, meint Angelika Bödecker, die zu Hause einen schönen Kräutergarten pflegt und allerlei Rezepte kennt.
Vor sechs Jahren absolvierten sie gemeinsam mit anderen die Stadtführerausbildung bei Heimatmuseumsleiter Stefan Meyer und stellten dann nach und nach fest, dass Frauen in den Chroniken der Stadt so gut wie nie in Erscheinung treten, jedenfalls nicht, wenn sie keine Adeligen waren, sondern aus dem Bürgertum stammten. Das Konzept der Stadtführungen in Rinteln sah vor, dem Vorbild anderer Städte zu folgen und eine Art Rollenspiel zu bieten. „Wir drei nun wollten Rinteln aus der Perspektive des Volkes zeigen“, erläutert Karin Gerhardt. „Doch wo waren die Frauen, die wir spielen könnten?“
Sie mussten sie selbst erschaffen. Dabei war eines klar: Wenn es schon keine Fürstinnen sein sollten, so konnten sie ebenso wenig Mägde oder sonst eine Figur aus dem einfachen Volk darstellen. Schließlich mussten sie sich ja gut auskennen in der Stadt, die „Weiber“, die die Touristen führen würden. Sie sollten die politischen Zusammenhänge verstehen, eine Ahnung von den Konsequenzen des Krieges haben, über die gerade gegründete Universität „Ernestina“ Bescheid wissen und überhaupt kluge Köpfe sein, fähig zu lesen, zu schreiben, kritisch zu denken. Ganz klar: Sie konnten nur Frauen von Ratsherren sein.
„Jetzt fehlten uns nur noch ein paar nette Männer“, sagt Helge Heinke-Nülle. Sie schnappte sich als „Babette“ den damaligen Bürgermeister Cordt Hane, der zugleich der Erbauer der „Universitätscommisse“ war, einer Gastwirtschaft für die Professoren und Studenten, die ohne ihre eigene Commisse wohl gar nicht erst in die Stadt gezogen wären. Karin Gerhardt wählte für ihre „Margaretha“ einen der Ratsherren, einen streng gläubigen Mann, der versucht, die Redseligkeit seiner Frau im Zaum zu halten – und ihr doch immer wieder erzählt, was auf den Ratssitzungen so besprochen wurde.
Angelika Bödecker machte sich zur kinderlosen Witwe, einer selbstbewussten Bürgersfrau, der man schnell nachsagte, sie habe ihre Männer vielleicht selbst ins Grab gebracht und müsse über Hexenkünste verfügen. Denn wie sonst sei es ihr gelungen, kinderlos zu bleiben. Ihre „Karoline“ ist bedroht vom aufkommenden Hexenwahn und lässt sich trotzdem nicht den Mund verbieten. Sie kann viel erzählen von den Professoren der Universität, die die Hexen-Gutachten schrieben, aufgrund derer viele unschuldige Frauen zum Tode verurteilt wurden. Und sie blickt manchmal in die Zukunft, was den Touristen zugute kommt, die über das Jahr 1623 hinausblicken wollen.
Die Entscheidung, Frauen aus dem Bürgertum zu spielen und die Geschichte(n) der Stadt aus ihrem Blickwinkel heraus zu erzählen, veränderte das Leben der drei Stadtführerinnen. Sie wurden zu Forscherinnen, die noch aus den kleinsten Anhaltspunkten Informationen zur Vervollständigung der Biografien ihrer Figuren suchten. „Uns blieb nichts anderes übrig, als die Frauen von den Männern her zu definieren“, erklärt Karin Gerhardt. „Sie kommen in den alten Quellen so gut wie gar nicht vor und werden oft nicht mal in den Taufdokumenten ihrer Kinder namentlich genannt.“
Helge Heinke-Nülle verbringt immer wieder viele Stunden in ihrem „Elfenbeinturm“, im Stadtarchiv, wo sie die alten Ratssitzungsprotokolle studiert. Wenn es dort um Hausverkäufe oder Heiraten geht oder darum, wer wegen Trunkenheit aufgefallen ist, dann erwischt sie auch Informationsfitzelchen über die Frauen der Stadt und spinnt so langsam ein Gewebe, das immer dichter wird. „Ich wünschte, ich hätte während meines Studiums mit so viel Spannung und Freude geforscht“, sagt sie. „Früher war ich über jede Pause froh. Jetzt freue ich mich über jedes Stündchen, dass ich mir für meine Babette Zeit nehmen kann.“
Karin Gerhardt geht es nicht viel anders. Sie liest alles, was sie an Stadt- und Landgeschichte in die Finger bekommt und schreibt die Textbücher für sich und ihre Kolleginnen, nicht ohne in den gemeinsamen Besprechungen knallharte Kritik hinnehmen zu müssen. „Laaaaangweilig!“, so heißt es oft bei den ersten Fassungen, und dann wird umgeschrieben, weiter diskutiert, Neues dazugedacht, bis die drei „Weiber“ genau wissen, was sie an welcher Stelle der Führungen von sich geben, wie frei sie bei Nachfragen der Touristen antworten können, welche Anregungen sie spontan aufnehmen. „Wir sind oft so in der Rolle drin, dass wir uns mit Babette, Margaretha und Hexe anreden.“
Die „Hexe“ Karoline ist am ehesten eine Kunstfigur. In ihr versammelt sich alles, was Frauen erlebten, die darauf bestanden, ihre Eigenständigkeit zu bewahren, auch mal in einer Männerrunde den Mund aufzumachen, auf ihren Eigentumsrechten zu bestehen oder einem anderen Mann schöne Augen zu machen. „Wir stehen ja in der Renaissance“, so Angelika Bödecker. „Die Gesellschaft insgesamt wurde freier, überkommene Herrschaftsstrukturen lockerten sich – und genau das machte vielen auch Angst. Auszubaden hatten das die Frauen – und sie spürten es.“
Die Bürgersfrauen, die mit der Heirat die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen verloren, behalfen sich oft mit typisch weiblichen Tricks, die sie sich in der Spinnstube, beim Einkauf oder vor und nach den Gottesdiensten weitergaben. Da gibt es zum Beispiel das Stichwort vom „Eiergeld“, ein mühsam zusammengespartes geheimes Taschengeld, das die Frauen sich erwarben, indem sie keine vollständige Rechenschaft über die Anzahl der Eier im Hühnerstall abgaben und heimlich Eier auf eigene Rechnung verkauften. Margaretha will unbedingt zwei ganze Taler zur Seite legen, damit sie nicht auf dem billigen Friedhof am Stadtrand beerdigt wird, sondern nah an der Kirche, dort, wo sich nur wohlhabende Menschen eine Grabstelle leisten können.
Anfangs wurden die Führungen vom „Weiberschnack“ weniger häufig gebucht als diejenigen, bei denen Landesherrin, Offizier oder Baronin und Freifrau im Mittelpunkt standen. „Die Leute dachten: ‚Wie die Bürger lebten, das können wir uns selbst vorstellen‘“, erzählt Karin Gerhardt. Inzwischen aber stoßen gerade die Bürgersfrauengeschichten auf großes Interesse und in den Gruppen, die mit Babette und Margaretha oder mit Karoline durch die Altstadt ziehen, geht es immer sehr lustig zu, erfahren sie doch nicht nur all die Dinge, die man bei einer Stadtführung sowieso erwartet, sondern auch jede Menge verbürgten Klatsch und Tratsch.
Wie genau die drei Frauen es mit ihrem Auftrag nehmen, Geschichte lebendig zu machen, zeigt sich auch an ihren Kostümen, die Helge Heinke-Nülle eigenhändig nähte, nach Vorbildern, wie sie auf den Epitaphen in der Nikolaikirche zu sehen sind. Es gibt da die spanische und die holländische Tracht, die eine etwas strenger, die andere etwas lässiger geschnitten, aber beide unbedingt mit den Hauben der verheirateten Frauen ausgestattet. An diesen Kostümen ist von außen keine einzige Maschinennaht zu sehen. „Ja, ich wurde von Helge gezwungen, den ganzen Rocksaum meines weiten Kleides mit der Hand umzunähen“, sagt Karin Gerhardt.
Diese Authentizität bringt aber einen großen Gewinn – und dieser ist es, der die drei Frauen zu immer neuen Aktivitäten antreibt: „Ich bin nicht verkleidet! Ich bin Babette!“, betont Helge Heinke-Nülle. Die anderen beiden sehen es mit ihren Figuren nicht anders. „Wenn ich anderthalb Stunden die Hexe war, fühle ich mich danach wunderbar. Ich habe es dann den Männern so richtig gezeigt“, so Angelika Bödecker. Und Karin Gerhardt sagt: „Wie sollte ich Margarethe nicht lieben – sie ist genau so ein schwatzhaftes Leckermaul wie ich.“